Tag der Deutschen Einheit
Eine seltene Einheit
Bearbeitet von Grenzgenial
Anna und Andreas Lutz finden es wichtig, dass der Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober ein Feiertag ist. Ohne die Wiedervereinigung wäre ihr Leben anders verlaufen. Andreas hätte seinen Traumberuf als Fahrzeugtechnikingenieur wahrscheinlich nicht erlernen können. Anna wäre wohl trotzdem Journalistin geworden. Sie hätte Andreas aber nie kennengelernt. Ihre Kinder Marlene, Frieda und die kleine Johanna würde es auch nicht geben.
Familie Lutz lebt in Falkensee. Eigentlich liegt das in Brandenburg, aber in den vergangenen Jahren ist es zu einer Vorstadt von Berlin geworden ist. Jeden Morgen fahren beide über den früheren Grenzstreifen, um auf die Arbeit zu kommen. Ein Schild erinnert an die über 40 Jahre lange Teilung der zwei deutschen Staaten. Die Einheit und ihre Ehe, das ist für Anna (37) und Andreas (35) Normalität.
Die beiden sind allerdings eine Ausnahme. Nur elf Prozent der Paare in Deutschland sind Ost-West-Paare. Verheiratet sind sogar nur zwei Prozent. Meistens heiratet eine Ost-Frau einen West-Mann. Die umgekehrte Variante wie bei Anna und Andreas ist eine Seltenheit. Das hat der Soziologe Daniel Lois beobachtet.
Das war in der DDR schon etwas Besonderes und stand unter kritischer Beobachtung.
Andreas Lutz
Kinder der Einheit
Andi war vier, als die Mauer fiel. Anna war gerade sechs Jahre alt. Andi stammt aus Königsbrück, einer kleinen Stadt mit 4500 Einwohnern, 25 Kilometer nördlich von Dresden. Er kann sich an das Leben in der DDR fast nicht mehr erinnern. Er weiß, dass er schon als Baby in die Krippe kam, weil das normal war.
Sein Vater war Lkw-Mechaniker, die Mutter technische Zeichnerin. Die Familie war gläubig und in einer evangelischen Freikirche engagiert. „Das war in der DDR schon etwas Besonderes und stand unter kritischer Beobachtung“, sagt Andi.
Trotzdem wollte sein Vater nie Stasi-Akten über die Familie sehen. „Er will es bis heute nicht, weil er Angst hat, dass er vielleicht etwas über alte Freunde erfahren würde.“ Andi bezeichnet sich selbst als unpolitischen Menschen. Es ist ihm wichtig, dass er frei entscheiden kann, was er beruflich macht.
Ich bekomme noch immer eine Gänsehaut, wenn ich Bilder oder Filme aus der Nacht des 9. November sehe.
Anna Lutz
Anna ist im Westerwald in Rheinland-Pfalz aufgewachsen. Sie kam erst mit drei Jahren in einen Kindergarten. Katholische Familie, westliche Traditionen – für Anna waren die DDR und später die neuen Bundesländer sehr weit weg. Erst als Erwachsene hat sie wirklich begriffen, was damals für ein Wunder passierte. „Ich bekomme noch immer eine Gänsehaut, wenn ich Bilder oder Filme aus der Nacht des 9. November sehe. Es ist doch heute gar nicht mehr vorstellbar, dass so eine Revolution friedlich und erfolgreich verläuft. Wahnsinn, dass das damals gelungen ist!“
Kulturelle Unterschiede
Der Statistik zufolge trennen sich Ost-West-Paare häufiger als Paare, bei denen beide aus dem Osten oder beide aus dem Westen kommen. Grund dafür sind oft kulturelle Unterschiede in Fragen der Religion und der Kinderbetreuung. Mix-Paare müssen mehr Kompromisse finden.
Anna wirft Kaputtes gern gleich weg, Andreas will alles reparieren. „Das ist definitiv etwas, was ich aus dem Osten habe“, meint er. Ihre älteren Kinder gehen in die Kita, seit sie ein Jahr alt sind. Die Eltern wollten beide weiter arbeiten, das war nie ein Streitpunkt. Sie kümmert sich mehr um den Haushalt, dafür kümmert er sich um den großen Garten. Andreas schätzt Harmonie, Anna will auch gerne mal Konflikte austragen.
Da wäre ich wohl immer der Ostdeutsche.
Andreas Lutz
Eine neue, gemeinsame Heimat
Anna wäre nie mit ihm nach Königsbrück gezogen, um dort ihre Familie zu gründen. „Ich fühle mich dort immer ein wenig fremd“, sagt sie. Was Anna als verschlossene Gemeinschaft empfindet, ist für Andi ein typisches Stück ostdeutsche Heimat. „Man lebt dort immer in Gemeinschaft. Jeder kennt jeden, hilft jedem. Man verabredet sich nicht, sondern kommt einfach vorbei“, so beschreibt er das, was er als typisch ostdeutsch empfindet. Umgekehrt konnte er sich nicht vorstellen, mit Anna und seinen Kindern im Westerwald zu leben. „Da wäre ich wohl immer der Ostdeutsche.“
In Religionsfragen sind sie sich einig. Über ihren Glauben haben sie sich sogar kennengelernt. Erst schrieben sie sich im Internet, dann telefonierten sie über Monate – bis Andreas schließlich nach Koblenz fuhr, um Anna persönlich kennenzulernen. Das war vor zwölf Jahren.
Annas Mutter hat für die Hochzeitszeitung der beiden einen Text über die Nacht des 9. November 1989 geschrieben. Anne war sechs, als ihre Mutter sie geweckt hat, damit sie die Bilder im Fernsehen sieht. „Das ist richtige Geschichte“, hatte die Mutter ihrer Tochter erklärt, „weil sich die Menschen selbst gewehrt haben, etwas zu ändern, was alle schon fast als normal angesehen haben“.
Vergangenheit und Zukunft
Was werden Anna und Andreas ihren Kindern später erzählen? „Wahrscheinlich werden sie es kaum noch verstehen können, dass es da mal zwei verschiedene Länder gab. Ich hoffe, dass unsere Kinder in Freiheit aufwachsen und selbst über ihr Leben entscheiden können“, sagt Andreas.
Andreas und Anna sind Optimisten, sie blicken lieber nach vorn als zurück. Sie wünschen sich für ihre Kinder all die Möglichkeiten, die sie selbst hatten. „Vielleicht werden wir ihnen schon irgendwann, wenn sie es begreifen können, erzählen, dass Freiheit nicht selbstverständlich ist“, meint Anna. „Und dass ihre Eltern in zwei sehr unterschiedlichen Ländern geboren wurden.“